Prof. Dr. Dr. Harald Walach

Statement

 
Säkulare, nicht-dogmatische Spiritualität als mögliche Basis kirchlicher Entwicklung

Religion ist in der postmodernen Welt zu einer – für Intellektuelle oft unmöglichen oder peinlich versteckten – Privatsache geworden. Das hat verschiedene Gründe. Vielleicht einer der wichtigsten ist die Verbrüderung der politisch-bürgerlichen Aufklärung mit der wissenschaftlichen. Während die politische Aufklärung für Befreiung von dogmatisch-lebenspraktischer Bevormundung durch Kirchenobere sorgte, hat der wissenschaftliche Fortschritt ein Klima entstehen lassen, in dem der Raum trans-rationaler Einsicht und Wirklichkeit immer zugiger wird. Häufig ist mit dem wissenschaftlichen Modell eine implizit materialistisch-immanentistische Weltsicht verbunden, die unsere Kultur immer mehr durchwirkt. Jedenfalls hat diese Entwicklung dazu geführt, dass traditionell religiöse Weltdeutungen als immer weniger überzeugend empfunden werden. Der postmoderne Zeitgenosse ist i.d.R. entweder materialistisch orientiert und auf Genussmaximierung aus, oder sucht sich, wenn, spirituell-religiöses Interesse vorhanden ist, seine Lebensphilosophie auf dem Markt der Möglichkeiten und Weltdeutungen zusammen, zu denen vielleicht auch ein paar kirchliche Versatzstücke gehören, aber nicht unbedingt die traditionell-religiöse Praxis. Hinter dieser Situation verbirgt sich aus meiner Sicht eine Entwicklungschance. Spiritualität, so meine Grundthese, ist ein Grundbedürfnis des Menschen, so ähnlich wie Sexualität auch. Man kann sie verstehen als den erfahrungsmäßigen Bezug auf eine transzendente Wirklichkeit, die über die unmittelbaren Bedürfnisse des Ich hinausreicht. Kirchliche Praxis hat dieses Bedürfnis nach Erfahrung, das sich historisch in mystischen Bewegungen geäußert hat, in der Regel eher mit Skepsis beäugt, als gefördert. Spirituelle Erfahrung wird vermutlich zur Basis kirchlicher Verkündigung und Praxis werden müssen, wenn Religion in der postmodernen Gesellschaft eine Zukunft haben soll, die für mehr als nur kleine Gruppen Relevanz haben soll.
 

Vita

 
Dr. Phil, Dipl.Psych., Leiter des Instituts für Transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) und Professor für Forschungsmethodik der Komplementärmedizin; Leiter des berufsbegleitenden Masterstudiengangs „Kulturwissenschaft und Komplementäre Medizin“. Promoviert in klinischer Psychologie (Basel) und in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung (Wien), habilitiert in Psychologie (Freiburg).
Autor von mehr als 100 begutachteten Originalarbeiten, einigen Büchern („Secular Spirituality/„Spiritualität“, „Weg mit den Pillen“, „Notitia Experimentalis Dei“), zahlreichen Buchkapiteln und Herausgeber der Reihe „Neuroscience, Consciousness, Spirituality“ (Springer) und der Zeitschrift „Forschende Komplementärmedizin – Research in Complementary Medicine“ (Karger).
Beschäftigt sich mit der Schnittstelle zwischen Bewusstsein und den Auswirkungen auf den Körper und die Gesundheit. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Wirkung von Spiritualität und Achtsamkeitsmeditation auf die Gesundheit, Grundlagenforschung zur Entstehung des Placebo-Effekts, lebensstilbasierte Prävention von Demenz.