Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Statement

 
Gerechtigkeit und Verantwortung – Wie wollen wir Teilhabe sichern?

Die als „Rückkehr der sozialen Frage“ bezeichneten Folgen einer zuletzt kaum mehr übersehbaren Arm-Reich-Polarisierung zwischen den wie innerhalb der einzelnen Gesellschaften machen einen verstärkten Rekurs auf die soziale Gerechtigkeit erforderlich. Letztere ist kein „Standortrisiko“, wie neoliberale Ökonomen glauben, sondern die Grundlage einer humanen, demokratischen und friedlichen Gesellschaftsentwicklung.

„Sozial ist, was Arbeit schafft“, behaupten Politiker verschiedener Parteien. Dabei handelt es sich m.E. um eine moderne Sklavenhalterideologie, die nicht mehr nach dem Sinngehalt von Erwerbsarbeit, den Arbeitsbedingungen und der Entlohnung fragt, vom Anspruch der Stellenbewerber/innen auf Berufs- und Qualifikationsschutz ganz zu schweigen. Es komme heute gar nicht mehr auf Verteilungsgerechtigkeit, sondern auf „Chancen-“ bzw. „Teilhabegerechtigkeit“ (Gleichheit beim Zugang zu Bildungsinstitutionen bzw. zum Arbeitsmarkt) an, hört man ebenfalls häufig. Der neue, als „moderner“ geltende Gerechtigkeitsbegriff ist eher versicherungsmathematischer Natur: Jeder soll für sich selbst vorsorgen, je nach seinem persönlichen Risiko viel oder wenig dafür aufwenden müssen und schließlich das bekommen, wofür er eingezahlt hat: Leistungs- statt Bedarfsgerechtigkeit. Das geht aber an den Problemen einer Gesellschaft, die sich immer mehr in Arm und Reich spaltet, vorbei. „Chancengerechtigkeit“ ist ohne ein Mindestmaß an materieller Gleichheit nicht erreichbar.

Zu fragen wäre, weshalb ausgerechnet zu einer Zeit, wo das Geld fast in allen Lebensbereichen wichtiger als früher, aber auch ungleicher denn je verteilt ist, seine Bedeutung für die Teilhabe – besser hieße es: Beteiligung bzw. Partizipation der Menschen am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gesunken sein soll. Damit sie in Freiheit (von Not) leben, ihre Bedürfnisse befriedigen und ihre Pläne verwirklichen können, brauchen die Menschen nach wie vor Geld, das sie bei Erwerbslosigkeit, Krankheit und im Alter als soziale bzw. Entgeltersatzleistung vom Sozialstaat erhalten müssen. Mehr soziale Gleichheit bzw. Verteilungsgerechtigkeit bildet also die Basis für faire Teilhabechancen benachteiligter Gesellschaftsschichten. Ohne ausreichende materielle Unterstützung steht beispielsweise die Chance, an Weiterbildungskursen teilzunehmen und die Arbeitsmarktchancen zu verbessern, für Erwerbslose nur auf dem Papier.

Einerseits ist die Bundesrepublik „Exportweltmeister“ und so wohlhabend wie nie zuvor, andererseits herrscht Massenerwerbslosigkeit und hat die Armut, besonders unter Erwerbslosen, Alleinerziehenden, Migrant(inn)en und älteren Menschen, in jüngster Zeit deutlich zugenommen. Trotzdem gelten Forderungen nach einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten als ideologisch verstaubt. Wollen sie ihrer Verantwortung gerecht werden, müssen die Kirchen etwa in der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit vermitteln, dass Menschen kein „Humankapital“ und Gemeinden, Regionen bzw. Länder mehr als „Wirtschaftsstandorte“ sind. Die neoliberale Standortlogik lässt sich argumentativ widerlegen, weil sie zwar in sich konsistent, aber nicht konsequent auf die Mehrheitsinteressen gerichtet und denkbar ungeeignet ist, eine positive Gesellschaftsentwicklung, den sozialen Zusammenhalt und den inneren Frieden zu gewährleisten. Entscheidend ist die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen: Soll es eine Konkurrenzgesellschaft sein, die Leistungsdruck und Arbeitshetze weiter erhöht, Erwerbslose, Alte und Behinderte ausgrenzt sowie Egoismus, Durchsetzungsfähigkeit und Rücksichtslosigkeit eher honoriert, sich jedoch gleichzeitig über den Verfall von Sitte, Anstand und Moral wundert, oder eine soziale Bürgergesellschaft, die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, Mitmenschlichkeit und Toleranz statt Elitebewusstsein fördert? Ist ein permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürger(inne)n, Kommunen, Regionen und Staaten, bei dem die (sicher ohnehin relative) Steuergerechtigkeit genauso auf der Strecke bleibt wie ein hoher Sozial- und Umweltstandard, wirklich anzustreben? Eignet sich der Markt tatsächlich als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl er auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, ausweislich einer sich verfestigenden Massenarbeitslosigkeit, seit 40 Jahren kläglich versagt?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher „Armut in einem reichen Land“, „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ sowie „Hartz IV und die Folgen“ erschienen.
 

Vita

 

  • am 26. Januar 1951 in Albersloh (Krs. Münster/Westfalen) geboren
  • 1970 Abitur am Dortmunder Max-Planck-Gymnasium im Sommer
  • Wintersemester 1970/71 bis Sommersemester 1978 Studium an der Ruhr-Universität Bochum (Sozialwissenschaft, Rechtswissenschaft, Psychologie und Philosophie)
  • 1975 Dipl. rer. soc.
  • 1978 M.A. (Philosophie)
  • 1980 Promotion zum Dr. rer. pol. an der Universität Bremen
  • vom 1. August 1987 bis 31. Juli 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich „Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften", Studiengang „Weiterbildung" der Universität Bremen
  • 1990 Habilitation im Fach Politikwissenschaft an der Universität Bremen
  • Dozententätigkeit an der Akademie für Arbeit und Politik sowie an der Forschungs- und Bildungsstätte für die Geschichte der Arbeiterbewegung im Lande Bremen; Lehraufträge an den Universitäten Bremen, Münster und Duisburg, der PH Erfurt sowie den Fachhochschulen Bremen, Fulda und Magdeburg
  • vom 1. Februar 1991 bis 31. Juli 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung
  • vom 1. Oktober 1994 bis zum 31. Dezember 1997Vertretung einer C-3-Professur für Politikwissenschaft/Sozialpolitik an der FH Potsdam
  • seit dem 1. Januar 1998 C-4-Professur für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln; Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt)