Dr. Thies Gundlach
Statement
"Die Gesellschaft lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann.“ (Böckenförde) D.h. grundlegende Werte, stabile Überzeugungen, kraftvolle Haltungen von Menschen kann man nicht „machen“ oder „erfinden“, sondern lediglich bewusst machen, verstärken und stabilisieren. Deskriptiv und normativ gilt: Die grundlegenden Werte (wie z.B. Menschenwürde, Toleranz, Religionsfreiheit, Selbstdistanz, Gewaltenteilung, Verfahrensrationalität u.a.) sind als Ergebnis vieler, z.T. brutaler Lerngeschichten in der Verfassung Deutschlands aufgenommen. Der „Lernbereich Religionen“ ist ein zentraler Teil dieser (europäischen) Lerngeschichten, sowohl mittels Einsicht in die katastrophalen Folgen einer gewalttätigen Religion wie mittels Einsicht der segensreichen Folgen einer stabilen Orientierung. Zu den fundamentalen Orientierungen der christlichen Werte gehören u.a. die Gottebenbildlichkeit jedes Menschen, die Nächstenliebe, die auch dem Fremden und Feinde gilt, die demütige Selbstdistanz, die dem Sünder angemessen ist u.a.m. Zu fundamentalen Orientierungen der christlichen Schattengeschichte gehört die Einsicht, dass Gewalt die größte Selbstgefährung des Monotheismus ist, dass Religionspluralität keine Bedrohung des Gemeinwohls bedeutet und dass Mission und Konversion zwanglos möglich sein müssen. Die christlichen Kirchen erinnern und bezeugen beide Seiten dieser Lerngeschichte, sie tun dies unabhängig von der Zahl ihrer Mitglieder. Und sie tun es öffentlich durch Wort und Tat, d.h. die christlichen Konfessionen stehen mit ihrem befriedeten ökumenischen Miteinander bei bleibender Unterschiedenheit ein für diese Lerngeschichte. Dieses Einstehen wird angesichts der „Wiederkehr der Religionen“ zukünftig immer bedeutsamer für das Gelingen von pluraler und toleranter Gesellschaft; ein Abdrängen der Religionen (und damit der Kirchen) in die Privatheit verhindert das öffentliche Eintreten für jene leitende Religionskultur, die sich den Einsichten jener Lerngeschichten nicht entziehen kann und will. Ein Erstarken des Säkularismus und seine konstitutive Unsicherheit, mit Religionen umzugehen, ist der Anfang einer ideologisch missbrauchbaren Leere; wenn die reifen, reflektierten Religionen bzw. Kirchen schwächeln, folgen unreflektierte „Rettungen des christlichen Abendlandes“ auf dem Fuße.
Vita
Seit dem 1. Dezember 2010 bin ich einer der drei theologischen Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD und leite die Hauptabteilung „Kirchliche Handlungsfelder und Bildung“. Viele meiner Aufgaben haben mit Gottesdienst und Kirchenmusik, mit Seelsorge und missionarischen Diensten, mit dem Verhältnis zwischen „Christen und Juden“ und der Begegnung mit der römisch-katholischen Schwesterkirche zu tun; deswegen heißt mein persönliches Referat auch „Glaube und Dialog“. Darüber hinaus befördere ich seit Beginn meiner Tätigkeit im Kirchenamt (1. September 2001) mit Lust und Leidenschaft den Reformprozess der Kirche (Stichworte: Impulspapier „Kirche der Freiheit“ 2006; Zukunftskongress Wittenberg 2007 und Zukunftswerkstatt Kassel 2009).
Als geborener Hanseat (*1956 in Lübeck) komme ich aus unkirchlichen Verhältnissen, in meiner Familie gab es seit Generationen keine Pastoren; ich habe sehr gern Theologie in Hamburg und Tübingen studiert und danach in Innenstadtkirchen Hamburgs gearbeitet. Zuerst als Vikar an einer Citykirche (Hauptkirche St. Katharinen), danach 10 Jahre lang an einer innenstadtnahen Kirche (St. Johannis-Harvestehude an der Außenalster). Diese Gemeindezeit hat viel Freude gemacht, nicht nur, weil ich eine familien- und kindertüchtige Kirche habe aufbauen können, sondern auch weil ich viel Neues ausprobieren durfte, von Literatur-Gottesdiensten zu Kriminalromanen der Gegenwart bis hin zu Film-Gottesdiensten mit Hollywood-Filmen.
Zu den schönsten Aufgaben eines Vizepräsidenten gehört die Stärkung der Theologie und die Suche nach neuer Sprache für das Reden von Gott, wobei der Reformprozess als konkrete Hilfe für die kirchliche Basis und die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 gegenwärtig die beiden wichtigsten Prozesse sind. Dazu kommen viele theologische Einzelfragen, von der Begleitung neuer Denkschriften bis zur Beantwortung einzelner Anfragen, von der Beförderung mancher Kommissionen bis zur Zuarbeit aller EKD-Gremien wie Rat, Kirchenkonferenz und Synode. Weil die Aufgaben ebenso interessant wie vielschichtig sind, vergleiche ich mich mitunter mit einem dieser Jongleure, die auf den Straßen der Städte ihre Kugeln, Keulen oder Bälle in der Luft halten. Denn die vielen verschiedenen Themen, Fragen und Aufgaben (eben „Bälle“) in Bewegung zu halten, damit keine runterfällt oder gar noch auf die eigenen Füße, ist eine wunderschöne, aber auch sportliche Aufgabe.